Die Odyssee bis zur Diagnose eines primären Immundefekts

Was ist eine primärer (angeborener) Immundefekt?

Ein Immundefekt tritt auf, wenn unser körpereigenes Abwehrsystem (Immunsystem) nicht richtig arbeitet und uns nicht effektiv vor Krankheiten schützt. Wenn dieser Defekt schon vor der Geburt entsteht, nennt man ihn einen primären (angeborenen) Immundefekt. Auf Englisch wird dies «primary immundeficiency» (PID) bezeichnet.

Die Herausforderung seltener Krankheiten

Häufig sind angeborenen Immundefekten seltene Krankheiten, d.h. die Krankheit tritt bei weniger als einer von 2’000 Personen in der Bevölkerung auf. Insgesamt gibt es beinahe fünfhundert verschiedene solcher Defekte.1 Obwohl nur wenige Menschen mit einem bestimmten Immundefekt leben, sind jedoch in der Summe viele Menschen von irgendeiner Form von Immundefekten betroffen. In Europa sind dies aktuell über 30’000 Menschen (Quelle European Society for Immunodeficiencies, ESID, https://esid.org/ und https://cci-reporting.uniklinik-freiburg.de/#/, Stand 2023). In der Schweiz sind es mehr als 350 Betroffene (Stand 2014).2 Diese Zahlen vermitteln einen Eindruck, doch die tatsächliche Anzahl der Betroffenen ist mit grosser Wahrscheinlichkeit viel höher, da nicht alle Betroffenen erkannt werden.

Die Unbekanntheit der einzelnen Krankheiten

Die grosse Anzahl verschiedener angeborenen Immundefekte, hat leider auch zur Folge, dass nicht alle diese Defekte den Ärztinnen und Ärzten bekannt. Dies wird von den Ärztinnen und Ärzte bestätigt, welche angeben, dass sie während ihrer beruflichen Tätigkeit keine oder nur wenige Betroffene mit einer seltenen Krankheit betreut haben.3 Der Weg bis zur Findung der richtigen Diagnose kann für Betroffene und ihre Familien lang und schwierig sein.

Die Sicht der Betroffenen

Innerhalb des Europäischen Referenznetzwerkes (ERN) «Rare Immunodeficiency, AutoInflammatory and AutoImmune Disease (https://ern-rita.org/) haben Patientenvertreter Betroffene nach ihren Ansichten und Erfahrungen gefragt. Ein Bericht von Betroffenen mit der seltenen immunologischen Krankheit «Allgemeine variable Immundefizienz (Common Variable Immunodeficiency, CVID) zeigt die Herausforderungen bis zur Diagnosefindung und ist hier verfügbar: https://ern-rita.org/the-journey-of-a-patient-with-a-rare-immunological-disorder/

Die Herausforderung der zeitnahen Diagnose

Betroffene berichten von einer Odyssee bis zur richtigen Diagnose. Obwohl Symptome bereits im Kleinkindalter auftreten, erfolgt die Diagnose oft erst im Erwachsenenalter. Fehldiagnosen und die Suche nach Fachspezialisten verzögern den Prozess. Viele Betroffene betonen den Mangel an Immunologen, besonders für Erwachsene. Die Forderung nach einer zeitnahen und genauen Diagnose sowie einem Spezialisten-Netzwerk wird von den Betroffenen hervorgehoben.

Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Diagnoseverzögerung

Die Diagnoseverzögerung umfasst die Zeitspanne zwischen dem Auftreten erster Symptome bis zur Findung der Diagnose. Je nach Art des Immundefektes variiert die Diagnoseverzögerung. Auffällig ist, dass Immundefekte, mit anfänglich milden Symptomen und einem langsamen Krankheitsverlauf eine längere Verzögerung aufweisen als Krankheiten, die von Anfang an schwerwiegend sind. Zum Beispiel beträgt die durchschnittliche Verzögerung bei CVID 4-6 Jahre, während diese bei der chronischen Granulomatose (chronic granulomatous disease, GCD) durchschnittlich weniger als 1 Jahr ist.2,4 CVID wird möglicherweise nicht sofort erkannt, da intakte Teile des Abwehrsystem (natürliche und T-Zellen-abhängige Abwehr) den Defekt anfangs kompensieren, so dass die ersten Symptome wiederkehrend jedoch mild sind. Im Gegensatz verursacht GCD von Anfang an schwerwiegende und anhaltende Infektionen z.B. in Lunge und Darm.

Weitreichende Konsequenzen bei verspäteten Diagnosen

Eine verzögerte Diagnose hat oft ernste Folgen. Eine Studie zeigt, dass bei CVID-Betroffenen, die spät diagnostiziert wurden (> 6 Jahre), bestimmte Begleiterscheinungen (Komorbiditäten), wie z.B. niedrige Blutzellzahlen (Zytopenien), entzündliche Knotenbildung (granulomatöse Entzündungen) und solide Tumore häufiger auftreten als bei früh diagnostizierten CVID-Betroffenen (≤6 Jahre).4 Eine andere Untersuchung basierend auf Daten aus dem ESID-Register (https://cci-reporting.uniklinik-freiburg.de) zeigte, dass das Sterberisiko bei CVID mit jedem zusätzlichen Jahr bis zur Diagnose um 4% steigt.5

Gründe für Verzögerungen bei der Diagnose

Die Nadel im Heuhaufen

Angeborene Immundefekte sind oft komplexe Krankheitsbilder, die eine gründliche Untersuchung erfordern, um eine Diagnose zu stellen. Begleiterscheinungen, die von der eigentlichen Krankheit ablenken, können die Diagnose zusätzlich verzögern. Ein Beispiel hierfür ist die Autoimmun-hämolytische Anämie (AIHA), die bei CVID-Betroffenen auftreten kann und zu einem Rückgang der roten Blutzellen führt. Diese Autoimmunerkrankung kann als eigenständiges Krankheitsbild auftreten und die Aufmerksamkeit der Ärzte und Ärztinnen auf sich ziehen, während der zugrunde liegende Immundefekt möglicherweise nicht sofort erkannt wird.

Bewusstsein für angeborener Immundefekte unter medizinischen Fachpersonen

Umfragen unter medizinischen Fachpersonen zeigen, dass das Bewusstsein für seltene Krankheiten, einschließlich angeborener Immundefekte, nicht bei allen praktizierenden Ärzten und Ärztinnen ausreichend ausgeprägt ist.6 Es mangelt an allgemeinen Informationen über primäre Immundefekte und an Kenntnissen darüber, wo diese Informationen gefunden werden können. Praktizierende Ärzte und Ärztinnen haben oft nicht genug Zeit, nach solchen Informationen zu suchen, und es kann vorkommen, dass sie unsicher sind, wohin sie die betroffenen Personen überweisen sollen.7, 8

Bewusstsein für angeborene Immundefekte stärken

Um mehr Menschen für primäre Immundefekte zu sensibilisieren können die 10 Warnsignale der Jeffery Modell Foundation genutzt werden.9 Praktizierende werden über diese Warnsignale in entsprechenden Fachzeitschriften informiert und ergänzen diese entsprechend. 10,11,

Die 10 Warnsignale

Für Kinder:

    1. Häufige Lungenentzündungen, also zwei oder mehr pro Jahr.
    2. Wiederholte Entzündungen der Nasennebenhöhlen oder mehr als acht Ohrentzündungen jährlich.
    3. Zwei schwere Infektionen pro Jahr, wie Hirnhaut- oder Knochenmarksentzündungen.
    4. Dauerhafte Pilzbeläge im Mund oder an anderen Hautstellen nach dem ersten Lebensjahr.
    5. Wiederholte Infektionen mit normalerweise ungefährlichen Erregern, wie zum Beispiel atypische Mykobakterien.
    6. Wiederholte tiefe Haut- oder Organabszesse oder chronische Rötungen an Händen und Füßen von Säuglingen.
    7. Wenn Antibiotika über zwei Monate hinweg keine Besserung bringen.
    8. Bereits bekannte angeborene Immundefekte in der Familie.
    9. Erkrankungen nach Impfungen wie Masern, Windpocken, Kinderlähmung oder Rotaviren.
    10. Wachstumsstörungen im Säuglingsalter oder geringe Gewichtszunahme.

Für Erwachsene:

    1. Zwei oder mehr neue Entzündungen der Nasennebenhöhlen pro Jahr.
    2. Zwei oder mehr neue Ohrentzündungen jährlich.
    3. Eine Lungenentzündung jedes Jahr über einen Zeitraum von zwei oder mehr Jahren.
    4. Zwei oder mehr schwere bakterielle Infektionen, wie zum Beispiel Hirnhautentzündung oder Knochenmarkentzündung.
    5. Immer wieder notwendige längere Behandlung mit Antibiotika.
    6. Entzündungen durch normalerweise harmlose Erreger.
    7. Langanhaltende Pilzerkrankung oder Pilzentzündung der Haut.
    8. Chronischer Durchfall mit Verlust von Gewicht.
    9. Immer wiederkehrende tiefe Abszesse in der Haut oder den inneren Organen.
    10. Bereits Bekannte Immundefekte in der Familie.

Die entscheidenden Schritte?

Überweisung an eine Fachexperten an eine Fachexpertin

Wenn ein allgemein praktizierender Arzt oder praktizierende Ärztin daran denkt, dass bei einem zu behandelnden Betroffenen ein Immundefekt vorliegen könnte, ist ein wichtiger und vielleicht entscheidender Schritt getan. Eine Überweisung an die entsprechenden Fachexperten/Fachexpertinnen kann den Betroffenen zur Diagnose verhelfen.

Gesundheitskoordination fördern

Bei komplexen Krankheitsbildern ist es wahrscheinlich, dass Spezialisten und Spezialistinnen aus verschiedenen Fachgebieten zusammenarbeiten müssen, um eine zeitnahe Diagnose und einen daraus resultierenden Behandlungsplan zu erstellen. Leider scheitern Bemühungen um eine Lösung oft an mangelnder Koordination und Kommunikation zwischen Grundversorgern und Spezialisten.

Betroffene und Ihre Familien als Experten „Ihrer“ Krankheit wahrnehmen

Betroffene und ihre Familien sind aufgrund ihrer Erfahrung die Experten ihrer Krankheit und übernehmen die Rollen des Advokaten und Fallmanagers.12, 8 Trotzdem werden die Betroffenen vom medizinischen Fachpersonal teilweise nicht als solche Experten wahrgenommen.13, 8

Fazit

Die Verkürzung der Odyssee bis zur Diagnose erfordert eine umfassende Sensibilisierung für primäre Immundefekte, effektive Informationsvermittlung und eine verbesserte Koordination zwischen medizinischem Personal, Spezialisten und Betroffenen. Immunologin.ch setzt sich dafür ein, einen bedeutenden Beitrag zu leisten.

Referenzen

  1. Bousfiha, A. et al. The 2022 Update of IUIS Phenotypical Classification for Human Inborn Errors of Immunity. J. Clin. Immunol. 42, 1508–1520 (2022).
  2. Marschall, K. et al. The Swiss National Registry for Primary Immunodeficiencies: report on the first 6 years’ activity from 2008 to 2014. Clin. Exp. Immunol. 182, 45–50 (2015).
  3. Rohani-Montez, S. C. et al. Educational needs in diagnosing rare diseases: A multinational, multispecialty clinician survey. Genet. Med. Open 1, 100808 (2023).
  4. El-Helou, S. M. et al. The German National Registry of Primary Immunodeficiencies (2012–2017). Front. Immunol. 10, 1272 (2019).
  5. Ziętkiewicz, M. et al. Shorter Diagnostic Delay in Polish Adult Patients With Common Variable Immunodeficiency and Symptom Onset After 1999. Front. Immunol. 11, 982 (2020).
  6. Odnoletkova, I. et al. The burden of common variable immunodeficiency disorders: a retrospective analysis of the European Society for Immunodeficiency (ESID) registry data. Orphanet J. Rare Dis. 13, 201 (2018).
  7. Tumiene, B. et al. Rare disease education in Europe and beyond: time to act. Orphanet J. Rare Dis. 17, 441 (2022).
  8. Vandeborne, L., Overbeeke, E. van, Dooms, M., Beleyr, B. D. & Huys, I. Information needs of physicians regarding the diagnosis of rare diseases: a questionnaire-based study in Belgium. Orphanet J. Rare Dis. 14, 99 (2019).
  9. Tumiene, B. et al. Rare disease education in Europe and beyond: time to act. Orphanet J. Rare Dis. 17, 441 (2022).
  10. Modell, V., Orange, J. S., Quinn, J. & Modell, F. Global report on primary immunodeficiencies: 2018 update from the Jeffrey Modell Centers Network on disease classification, regional trends, treatment modalities, and physician reported outcomes. Immunol. Res. 66, 367–380 (2018).
  11. Amaya-Uribe, L., Rojas, M., Azizi, G., Anaya, J.-M. & Gershwin, M. E. Primary immunodeficiency and autoimmunity: A comprehensive review. J. Autoimmun. 99, 52–72 (2019).
  12. Arlabosse, T., Theodoropoulou, K. & Candotti, F. Der primäre Immundefekt – Ein praktischer Leitfaden für den Kinderarzt. Paediatrica 33, (2022).
  13. Baumbusch, J., Mayer, S. & Sloan‐Yip, I. Alone in a Crowd? Parents of Children with Rare Diseases’ Experiences of Navigating the Healthcare System. J. Genet. Couns. 28, 80–90 (2019).
  14. Budych, K., Helms, T. M. & Schultz, C. How do patients with rare diseases experience the medical encounter? Exploring role behavior and its impact on patient–physician interaction. Heal. Polic. 105, 154–164 (2012).

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